Shakespear´s Audience

„Totus mundus agit histrionem.“ Wenn zu Zeiten Shakespears bis zu 3000 Zuschauer sich zu einer Aufführung im Globe-Theatre versammelten, so konnte man dessen Motto getrost auch umkehren: Nicht nur war die ganze Welt ein Schauspiel, es war auch gleichsam die ganze Welt, die sich hier zum Schauspiel versammelte. Das Publikum des Globe spiegelte die Gesellschaft im Kleinen. Als Zuschauer eines shakespeareschen Stückes wurde man sich seiner Zugehörigkeit zu dieser Welt bewusst; dagegen einen die streng hierarchisch organisierte elisabethanische Gesellschaft gewöhnlich die trennenden Unterschiede spüren ließ.

Shakespeare gelang es mit seinen Stücken Menschen unterschiedlichster Herkunft gleichermaßen anzusprechen und in den Bann zu ziehen. Mit ihrem Reichtum unterschiedlicher Charaktere spiegeln sie die Vielschichtigkeit ihres zeitgenössischen Publikums.

Die Qualität, Individuen heterogener Schichten gleichermaßen anzusprechen und aus ihnen ein Publikum zu formen, ist von politischer Bedeutsamkeit. Die Aufführung formt ein Publikum, das fühlt: was hier verhandelt wird reicht über die Bedeutung der gesellschaftlichen Schranken hinaus. Verständlich wird dies, weil die Bilder in welchen Shakespeare dies verhandelt eben von jenen Realitäten genommen sind, mit welchen der Einzelne – nur von je verschiedener Seite – bekannt ist.

Hierzu ein Gedanke von Franz Baermann Steiner von bleibender medienpolitischer Aktualität:

Oft habe ich die Frage gehört, wie es denn möglich sei, daß jene schwierigen Shakespearestellen, die man sich oft erst beim Lesen erarbeiten muß, von einem Publikum jener Zeit verstanden wurden; und nach dieser rhetorischen Frage: wie ein Publikum, das offensichtlich in einem größeren Teil diesen Stellen nicht habe folgen können, die Unverständlichkeit habe ruhig über sich ergehen lassen? Kann man nicht ähnliche Fragen für die attische Tragödie stellen? Das Theater war Volksangelegenheit, im wahrsten und weitesten Sinne des Wortes, und doch haben wir keinen Grund anzunehmen, daß die gebildeten und ungebildeten Stände, die Phantasielosen, die Literaten, die Eingeweihten und die Stumpfen alle gleich verständlich fanden, was uns jetzt als vornehme Weisheit, zusammengeballte Erkenntnis gilt.

Nun, warum sollte es denn anders gewesen sein? Die Forderung, etwas in der Öffentlichkeit Vorgetragenes  müsse allen verständlich sein dieser anscheinend gerechte Anspruch darauf mit angesprochen zu werden – ist keine Angelegenheit von langer Dauer. Es scheint durchaus der Fall gewesen zu sein, daß Menschen sich geehrt fühlten, durch die Möglichkeit, bei einer Rede zugegen zu sein, deren Gedankenflug sie nicht völlig folgen konnten und also geduldig warteten, bis auch etwas für sie abfiel. Nur wenn eine Kultur auf jenes niederste Niveau fällt, wo ein jeder sagt, was er nicht verstünde, sei Unsinn, wird die Rechtfertigung des Anspruchs auf allgemeine Verständlichkeit zwingend – und in einem gewissem Maße richtig.

Feststellungen und Versuche – Aufzeichnungen 1943–1952, hg. v. Ulrich van Loyen u. Erhard Schüttpelz, Göttingen 2009, S. 111 f.

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